Mittwoch, 23. November 2011

Präludium

Singe, o singe dich, Seele,
über den Eintag empor in die
himmlischen Reiche der Schönheit!
Bade in goldenen Strömen der Töne dich rein
vom Staube der Sorgen!


Was dir die Welt geraubt, vergiss es!
Was dir dein Ich verwehrt,
genieß es im Traum!
Auf klingenden Wellen
kommen die heimlichsten Wunder
wie Düfte
ferner Gärten
zu deinen leis zitternden Sinnen.


Singe, singe, Seele des Menschen,
vom Grauen der Nächte bedroht,
dich empor,
wo, lichtumgürtet,
der Phantasien
jungfräulicher Reigen
die zierlichen Füße
auf nie verblühenden Wiesen
verführerisch setzt. 


(Christian Morgenstern)


... mir heute geschenkt, ganz unerwartet.

Plötzliches Erkennen - wie Erdung und Himmelsbrücke in einem.
Ein Moment zwischen all der sich türmenden Arbeit, der zeigt:
Da bin ich - Da ist es.
Es.
Ist.
Da.
Nicht verloren, nicht verweht, ja noch nicht einmal verborgen ist es.
Ein Moment von Wirklichkeit unter fernem Sternenhimmel hat mich gestreift, als ich mit diesem Geschenk in den Garten gegangen bin, die Weite zu spüren.
Und wenn es nicht zu spät, zu laut für diese Uhrzeit wäre, setzte ich mich jetzt ans Klavier - genau jetzt.
Musik zu atmen.
Ich singe innerlich ...

Und das ist erst das Vorspiel?
Das ganze Leben ein Präludium?
Ich staune ...

(Und ich weiß: müde und erkältet und abgearbeitet - wenn man dann trotzdem über einen Moment von Ewigkeitshauch erzählen will, dann wird das wirr, sehr wirr. So ist es eben mit dem Unsagbaren. So sei es. --- Ich brauche nun Schlaf. Irdischen präludierenden Schlaf.)

Danke.

Dienstag, 22. November 2011

Der andere Blick

Die Tochter steht an meinem Schulschreibtisch. Drauf stapeln sich in diesen Tagen Klassenarbeitshefte und -hefter. Die Tochter blättert drin. (Wie Lehrerkinder das häufiger zu tun pflegen :)).
"Zwei plus minus eins", liest sie vor.
Und gleich darauf: "Oh, voll süß!"
Hä, denke ich, was bitte ist an den Mathearbeiten oh-voll-süß???
"Was ist denn da süß?", frage ich sie also.
"Na die Mäuse hier."
Hä, denke ich, Mäuse? Hä?
Und komme dann doch mal aus dem Nachbarraum schauen.
Ein Aufkleber, die Heftbeschriftung. Kleine Mäusefiguren tragen Zahlen in der Gegend herum (2+(-1)). Wirklich süß.

Noch nie im Leben habe ich die Aufkleber auf den Klassenarbeitsheften angeschaut. Noch nie im Leben habe ich dort Mäuse gesehen.
Seit zehn Jahren wandern Mäuse über meinen Schreibtisch, und ich nehme es nicht wahr.
Obwohl ich weiß, welch lange Überlegungen der Sohn zu Beginn jedes Schuljahres investiert, bevor er sich entscheidet, welcher Aufkleber auf welches Heft kommt. Und ich war blind und habe bisher nicht einen müden Blick auf die Aufkleber meiner Schüler geworfen :(

Also: Öfter mal den Blick schweifen lassen, auf Heftaufkleber zum Beispiel. Und überhaupt: in die Weite hinaus, auf die kleinen Dinge am Wegesrand, die so manche Botschaft in sich tragen ...


(Denn dass dieser Mäuseaufkleber auf dem Heft eines besonders cool sich gebenden Jungen klebt, das berührt mich jetzt doch sehr.)

Donnerstag, 17. November 2011

Tagtraum

Lieber Lehrer,

vielen Dank dafür, daß Sie Ihr Leben meinem Kind gewidmet haben. Kann ich IRGEND ETWAS für Sie tun? Brauchen Sie IRGEND ETWAS? Ich bin für Sie da.

Warum?
Weil Sie meinem Kind – MEINEM SCHATZ – lernen und wachsen helfen. Sie sind nicht nur weitgehend für seine Fähigkeit verantwortlich, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern Ihr Einfluß wird sich auch sehr stark darauf auswirken, wie es die Welt betrachtet, was es von anderen Völkern auf dieser Welt weiß und wie es über sich selbst denkt.
Ich möchte, daß mein Kind glaubt, es könne alles erreichen – daß ihm keine Türen verschlossen, keine Träume in weiter Ferne sind. Ich vertraue Ihnen den kostbarsten Menschen in meinem Leben sieben Stunden jeden Tag an. Folglich sind Sie einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben!

Ich danke Ihnen.


(Moore, Michael: “Stupid White Men”)


Ein schöner Traum, solche Briefe ...


Statt dessen hier im Posteingang Rebis:

... mein Kind ... hat ja alles gekonnt ... durch Sie verschuldet ... begann vor Verzweiflung zu weinen ... wenn Sie nicht in der Lage sind, den Stoff zu vermitteln ... das können Sie nicht wegdiskutieren ... Einschüchterung und Demotivation in Ihrem Unterricht an der Tagesordnung sind ... wenn Sie es darauf anlegen, nur kleine Genies zu unterrichten ... beschimpften Sie die Schüler ... Ihre Argumentation ist nicht haltbar ... mein Kind leidet durch Sie ...


Ich versuche ja, die Eltern zu verstehen, versuche nachzuvollziehen, was sie bewegt, solche Briefe abzusenden, was sie mir damit eigentlich sagen wollen, was sie damit über sich und ihr Kind sagen - unter der Oberfläche der Forderungen und Anschuldigungen, teils in einem Tonfall vorgebracht, den man getrost als unverschämt bezeichnen kann.
Allein, es will mir manchmal nicht gelingen. Heute zum Beispiel.

Eine Stunde lang habe ich nun um eine diplomatische Antwort gerungen. Soeben abgesendet. Besser wird's nicht mehr. --- Ich sollte echt mal ein Trainingsseminar in Gewaltfreier Kommunikation besuchen, nicht immer nur in den Büchern blättern und mir dort Formulierrat holen.
Vielleicht ließe sich so auch mein Impuls verringern, dem Mail-Gegenüber (das ich meist nicht mal von Angesicht kenne) per Tasten an die Gurgel zu springen. Vielleicht gibt es geschickteren Umgang damit als den, den ich per Bauchgefühl wähle: deeskalierend, aber offenbar oft nicht deeskalierend genug.

Und der Zeitaufwand ... man stelle sich nur mal vor, wenn mir auch nur ein Bruchteil meiner 200 Schüler-Eltern solche Briefe schriebe ... wann bereite ich da dann noch meinen Unterricht vor? Geschweige denn die in diesen Briefen geforderten Maßnahmen?
Und überhaupt - was sagt mir der Blick auf die Uhr mal wieder? Zeit für einen Nachttraum. Ein solcher wie dieser Tagtraum - siehe oben - zum Beispiel ... das wär`s doch jetzt, als Entschädigung.
Ich geh dann mal träumen ...

Montag, 14. November 2011

Also dann ...

Warum fragt Ihr denn gerade alle heute? Fast könnte man es einen Nachfragekomplott nennen ;-)
Na gut, es lässt mir kaum eine Wahl:
PIEP.

Und um es vorab deutlich zu sagen: Keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Wäre es in mir nicht so heiter, wäre es hier längst nicht so still.

Ja, so etwa sieht es aus:












Bunt, warm, lichtdurchflutet.


Nicht draußen - da ist dieses Licht schon ein paar Tage her - aber in mir.

Und im Außen, da rast das Leben und fordert mich ganz. Das berufliche vor allem. Eine Übergangsphase, in der ich an der Schule noch fast ein ganzes Deputat zu fahren habe, das Neue aber nebenher beginnen soll. Bis Weihnachten heißt das 8 Stapel Korrekturen. Plus 8 Nachmittags- oder Abends- oder Ganztagszusatztermine. Eigentlich auch schon Vorbereitung auf all meine neuen Aufgaben. Ähm - eigentlich. Denn da sind ja noch 22 Wochenstunden Unterricht. Und ein Praktikant, und eine Referendarin.
Nein, ich jammere nicht. Ich habe das vorher gewusst, dass es im Übergang so reiben wird. Dafür werde ich mich wohl im Januar, wenn die Schulverpflichtung halbiert wird und das Neue intensiv beginnt, wie im Müttergenesungswerk fühlen :)

Noch ein paar Splitter der letzten Tage (nur damit Ihr wisst, dass ich mich auch ohne Schreiben nicht langweile):

Am Wochenende der Sohneskindergeburtstag - der Termin war oft verschoben und lang fällig. Diesmal auswärts - ich ganz allein mit Bus und Bahn und 12 Kindern unterwegs. Sozusagen die kleine Klassenfahrt zwischendurch :)  (wirklich: ich wusste meine professionelle Erfahrung sehr zu schätzen in diesen Stunden).

Ein noch aufgedrehter Sohn platziert den Kissenwurf passgenau. In zwei Teilen liegt sie am Boden. Ich quetsche mir die Einmalkontaktlinsen ins Auge - iiihhh, aber irgendwie muss ich unterrichten. Später der Optiker sagt, das Geklebte hält nun nicht mehr lange.
Ich wollte die neue Brille eigentlich noch hinausschieben, weil in absehbarer Zeit sowieso Gleitsicht fällig wird. Soll ich nun vorher noch eine ohne Gleitsicht oder gleich mit? Beratungsgespräch beim Optiker. Und Preislisteneinsicht. Man oh man, Altersweitsichtigkeit muss man sich bei meinen Kurzsichtigkeitswerten aber auch leisten können :(  --- Ich fürchte, die Entscheidung muss in den nächsten Wochen fallen. (Nur für die mit gesunden Augen gesegneten: Es geht um eine vierstellige Summe. Ja.)

Passend dazu geht heute mein Handy kaputt. Weil wir gerade bei Entscheidungen pekuniärer Art sind ...

Und dann sind da noch: --- die Kinder, beglückt, wenn ich abends komme, so wenig wie wir uns sehen, so schön ist es --- das Klavier, die Musik, die Momente zum Innigwerden --- mein Blick vom Schreibtisch in die Herbstluft hinaus --- eine Herzensfreude, völlig überraschend geschenkt --- eine Begegnung durch einen Satz, der ein langes Gespräch in sich trägt --- und ein Sohneswort, als er sich abends im Bett zu mir einkuschelt: "Wenn ich bei Dir liege, dann fühlt es sich an, als könne mir niemand etwas antun."
Dann weiß ich, dass trotzdem noch alles stimmt.
Auch wenn die Tastatur schweigt, die stillen Momente an vielen Tagen mir selbst nicht sichtbar sind, die Zeit für Spaziergänge nicht reicht, für Begegnungen, für Mails, für Gedankenwege, für Vertiefung auch nicht ... dann weiß ich, dass es im Moment so sehr im Äußeren sprudeln muss und darf, weil andere Zeiten waren und wieder sein werden.

Ein Fluss eben, all das ...









Unter einem weiten Himmel ...









(Und wenn ich nun wieder ein paar Tage schweige, dann sitze ich an meinen Korrekturen. Nur das. Alles ist gut. Sogar Korrekturen sind gut, wenn man Ja zu ihnen sagt.)

Samstag, 5. November 2011

Die Mathematikerin in mir ...

… stellt einen Plan auf, an welchem Wochentag sie welches Stück Haus aufräumt,
… tut ein gleiches auch für jede Ferien und sämtliche anstehende Großaufgaben,
… liest ein Blog, dessen ältere Einträge sie kennenlernen will, systematisch von hinten nach vorn, nicht ohne sich nach jeder Lesesession eine Notiz zu machen, bis wohin sie gekommen ist,
… legt für den allabendlichen Schreibtischberg eine Liste an, auf der nicht nur die Aufgaben, sondern auch die voraussichtlichen Bearbeitungszeiten vermerkt sind – sie plant damit, bis zu welcher Uhrzeit sie wie weit gekommen sein muss,
… wird ganz unglücklich, wenn Foto- und Dokumentenbezeichnungen in verschiedenen Ordnern ihres Computers nach unterschiedlichen Verfahren vorgenommen wurden und bemüht sich in aufwändigen abendlichen Umbenennungssessions um eine stringente Linie der Dateinamenstruktur,
… bringt es nicht übers Herz, ein einsames, harmloses Stück Hellblauwäsche mit in die Beige-Hellbraun-Waschmaschine zu tun – schließlich gehört es in den Blau-Korb, und das Ganze ist eine Frage des Prinzips,
… führt systematisch Listen über so manches in ihrem Leben, und – weil sie nicht mehr besonders konsequent darin ist – steht sie desöfteren haareraufend vor dem Problem, Lücken in diesen Listen im Nachhinein füllen zu müssen, wobei sie jegliche innere Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns mit einem Tick zuviel an Heftigkeit vom Tisch wischt.


Eigenartig – seltsam – sonderbar? Finde ich auch. Dennoch ist es da, dieses Relikt aus meiner Vergangenheit – ja, so nenne ich das mal, denn früher war es noch viel heftiger. Da war ein regelrechter Systematisierungs- und Listenaufstellungszwang in mir.
Früher – das war, bevor mir bewusst wurde, dass Mathematik nicht mein Leben ist. Und nun ist es offenbar noch ein weiter Weg, bis ich mit allen Fasern verinnerliche, dass das Leben nicht mathematisch strukturierbar ist. Und so lange systematisiere und strukturiere ich in meinen Alltagsdingen herum.
Manchmal lächle ich über mich selbst. Und manchmal werde ich mir bewusst, dass diese Fähigkeit - jedenfalls im Beruf - nicht nur Nachteile mit sich bringt. Es ist wie bei vielem: alles eine Frage des rechten Maßes.

Ja, genau: nicht nur Nachteile. In letzter Zeit passierte es mir auffallend häufig: irgendetwas in der Schule ist zu organisieren oder zu systematisieren, in mir erscheint sofort eine Idee, ich platze damit heraus - wie die Kollegen beim Kollegiumsausflug geschickt auf die 5er-Tickets verteilt werden sollten, damit jeder damit abends bis an seinen Wohnort kommt, wie wir die Gruppeneinteilung im Landheim jetzt und sofort und zügig und immer wieder neu vornehmen können, in welcher Reihenfolge wir uns bei der Klausurerstellung gegenseitig benachrichtigen, so dass ... wie wir die Stundendeputate vorab berechnen können, damit am Schuljahresende nicht das große Erwachen kommt, wer wann in welche Liste einträgt, damit am Ende alle pünktlich ihre Informationen erhalten: Alltagsberufsdinge halt -, und ich bekomme von den Kollegen immer den gleichen Kommentar: "Da spricht die Mathematikerin." --- Obwohl dies in der Regel anerkennend (und teils neidvoll) gemeint ist, kann ich mich bis heute nicht damit anfreunden.

Irgendetwas hakt da in mir. Wegen meiner mathematischen Vergangenheit, weil ich so viele Jahre dahinein gewidmet habe, und es von vornherein nicht der richtige Weg für mich war? Irgendetwas hängt mir nach und lässt mich gegen die Mathematikerin in mir bis heute ein wenig allergisch sein.
Ich werde mich dem auf zwei Wegen nähern. Erstens: Die Mathematikerin in mir lieben lernen. Und zweitens: Ihr ein bisschen weniger Raum einräumen, stattdessen das Zepter häufiger an Frau Spontanchaotin übergeben.


In diesem Sinne: zähle ich die Punkte der Klassenarbeit heute mal mit der Hand zusammen und erstelle keine Excel-Tabelle. Hörst Du, Frau Rebis – KEINE Tabelle anlegen!!!

Mittwoch, 2. November 2011

Bachfestpotpourri

Vor ein paar Tagen habe ich Karten gekauft - für das nächste Bachfest in Leipzig, am Ende der Pfingstferien. Heute kamen sie hier an, heute hielt ich mit den Tickets meine Vorfreude in den Händen. Es ist noch lange hin, aber die Erinnerungen an das letzte, an den Juni, die sind mir noch ganz nah ...


Ein Abendkonzert, zum Weinen ergreifend.
Das Orchester in organischer Bewegung, alle miteinander im Schwingen - ein beeindruckendes Bild von gemeinsamem Atem, selbst wenn man nichts hören würde. Jeder einzelne, der da auf dem Podium sitzt, ist Medium für die Quelle, der die Musik entspringt. Es macht erbeben, hört man diese spielen. Und die hauchzarten Töne der Altistien, uns tausend in der Kirche in die atemberaubt schweigende Ergriffenheit bannend  ...
(Während die Sopranistin beim Singen so in den Knien hüpft, dass jeder Gesanglehrer einschreiten würde. Wäre sie nicht schon so renommiert :))

Inmitten glockenstimmiger Thomanerjungs (oh, die sind ja so klein wie der meine!) in der Kirchenbank sitzen und singen. Dabei den berühmten Countertenor zum Anfassen nah vor sich haben. (Nein, angefasst habe ich ihn nicht :) Aber angesprochen.) Die beiden älteren Damen neben mir, zum Singen gekommen, lesen im Programm: "Ein Countertenor - nu, des wär'ma ma gucke, was des nu wieder gibt..." ;-)

Dem Thomaskantor auf der Straße entgegenlaufen. Weil ich bei seinen Spontankonzerten tagelang in den ersten Reihen saß, wirkt er ganz verunsichert, ob er mich kennen müsse. Zumal ich ihm auch noch in die Augen schaue bei dieser flüchtigen Begegnung. Er entscheidet sich, mich kopfnickend zu grüßen. Ha - mich! Der Thomaskantor - Bachs Nachfolger, sozusagen :)
(Warum eigentlich schlendert der des Nachmittags durch Leipzigs Nebengassen und zieht ein Klamottenköfferchen hinter sich her? Ich dachte immer, der wohnt hier?)

Den jungen russischen Preisträgerpianisten hören.
Staunen. Über seine Virtuosität. Und seine unprofessionelle Unbeholfenheit Wie er unbeirrt Wasserflaschen, Stirnschweißwischtücher, Notenmappen, lose (kopierte!) Blätter auf und unter dem Flügel verteilt. Zwischen den Stücken räumt er ein wenig auf. Aber sein Spiel macht das vergessen. Und sein Mitsingen. Nein, nicht laut wie Glenn Gould. Ganz lautlos, ganz aus der Seele kommend singt sein ganzes Ich. Den Beifall zum Schluss kann er sichtbar kaum ertragen. Er winkt ihn ab. Alle glauben, für eine Zugabe. Nein. Er dankt in gebrochenem Deutsch für die Aufmerksamkeit, aber: „In meiner Kultur sind Zugaben nicht üblich.“ Und geht. Kehrt nochmal kurz um, um seine Stirntücher und Wasserflaschen mitzunehmen.
Das irritierte Publikum kann sich nicht mehr zum Weiterklatschen entschließen.

In die Johannespassion kaum hineinfinden.
Erstaunlich, warum ich gerade hier nur schwer ankomme. Weil meine Stimmung so gar nicht nach Passion ist? Weil ich die Passion kurz zuvor selbst gesungen hatte, noch zu sehr darin gefangen bin? Weil die Interpretation ungewohnt, und, ja, zuweilen sehr gehetzt, sehr holperig ist? Oder weil der Tenor - wie immer seit 15 Jahren - einfach nicht an den Evangelisten herankommt, den ich damals intensiv gehört habe und der mir für immer seine Stimme ins Ohr gepflanzt hat. Oder weil ringsum manchmal Hustenbonbonpapier raschelt, weil während der Arie "Zerfließe, mein Herze" ein Handy klingelt. Erst ganz zum Ende bin ich endlich dort.
Nur: Warum klatschen die Leute 2 Millisekunden nach dem Schlusston los - warum gibt es keinen winzigen Moment der ergebenen Stille?

Überhaupt sollte man im Programmheft nicht nur Handyabschaltung anweisen, sondern auch solches: Bitte nehmen Sie Ihre Bonbons vor dem Konzert aus der Tasche und wickeln Sie sie verzehrbereit aus. Und das: Bitte halten Sie Ihr Programmheft so in den Händen, dass es auch während eines gelegentlichen Einnickens nicht zu Boden fällt.
Es ist unglaublich, wie viele Bonbonauswickler, Taschenkramer, Handyklingler, Programmrunterwerfer, Indieandachtsvollestillehineinklatscher in den Konzerten sitzen. Ich bin da nicht pingelig, nicht empfindlich, aber zuweilen ist es arg. --- Sind das die Leute, die in solchen Konzerten sitzen, weil „man“ das eben tut? Weil „man“ sonst nicht dazugehört? Ich frage mich wirklich …

Und schließlich das Konzert am letzten Abend.
Für das ich gar keine Karte habe. Welches schon 10 Minuten nach Beginn des Online-Ticketverkaufs im Herbst vergangenen Jahres ausverkauft war. Für welches es nur ein Wort gibt, wenn man es in der Stadt irgendwo erwähnt: „Ausverkauft“. Und in welches ich so unbedingt will. Und später einsehe, dass ein „unbedingt“ hier nichts zu suchen hat, dass ich es beim Wollen belassen muss. Beim offenen Wollen, welches kein „Muss“ ist.
--- Dieses Wollen, wie es mich bedrängt und wie ich mich daraus löse ... Darin steckt eine wichtige Botschaft für mich. ---
Jedenfalls stehe ich zusammen mit ebensolchen Wollenden lange, lange auf einer Treppe, wartend. Wir unterhalten uns über unsere musikalischen Wege, und über unser Warten auf dieser Treppe, und auch darüber, dass sämtliche an uns vorbeiziehenden Kartenbesitzer englischsprachig sind. Wie das denn sein könne? Dann eine deutschsprechende Kartenbesitzerin. Hat ihr Ticket allerdings über eine australische Agentur gekauft, via Internet und Auslandsüberweisung und Postweg. Und zwar "erst" 30 Minuten nach Verkaufsbeginn. Denn das war ja zu australischer Nachtzeit, deswegen haben die Tickets dort wohl so "lange" vorgehalten. Nun ja, es ist schon sehr seltsam, das alles zu hören. Was die Stimmung auf der Treppe erstaunlicherweise steigen lässt. Wir wollen alle nicht mehr verbissen hinein. Stehen hier einfach und schauen, was passieren wird. Lächeln uns an, warten, summen vor uns hin.
Und plötzlich - zum Lohn für unsere Gelassenheit? - holt man uns hinein und verkauft uns Karten. Zusätzliche, per Hand ausgestellte. Einfach so, eine Karte nach der anderen wird verkauft, an die ganze lange Schlange der Wartenden. Wie ein kleines Wunder.
Ein viel größeres Wunder: Die Musik, die wir dann hören dürfen. Ich bin sehr schnell ganz da.
Einmal weine ich. Aber das mag ich in diesem Bachfestpotpourri nicht erzählen. Weil es Tränen mit Himmelsweite sind.
Bachfestschlussmusik.

Danach noch eine letzte Stunde durch die Stadt schlendern, im Hof des Bachmuseums Kruzianer- und Thomanerknaben beim Einsingen zuhören. Aber keinen Neid mehr spüren auf die Besucher, die in langen Schlangen in dieses Konzert hineindrängen. Für mich ist es richtig, jetzt abzufahren. Ein guter Schlusspunkt.
Direkt vor dem Bahnhof, in Gedanken schon mein Gepäckschließfach suchend, laufe ich noch einmal jenem Countertenor fast in die Arme. In T-Shirt und Jeans, mit Baseballmütze, das italienische Orchester im Pulk hinter sich herziehend. Auf der Suche nach einem Ort zum Essen, Trinken, Beisammensitzen. Die gibt es auf Leipzigs Straßen zur Genüge.

Aber ich fahre ab ...


Und bald fahre ich wieder hin. Wie viel Vorfreude so ein bisschen Ticketpapier auslösen kann!

Dienstag, 1. November 2011

Blätter

Heute und gestern auf der Terrasse - es ist unglaublich ...




Während es im Zimmer so aussieht. Der Versuch, einen Überblick zu gewinnen, in all meine Unterlagen eine neue Ordnung zu bringen. Jedenfalls in die, die ich in meiner neuen Tätigkeit bald brauchen werde.


(Heute hat sich der Boden schon wieder ein wenig gelichtet.)

Und immer wieder gehe ich raus - hierher ...